62.000 Supermänner in Blaumännern

Dieser Artikel von Alexander Gutzmer erschien am 01.09.2002 in der Tageszeitung “Die
Welt” und zeigt im Rahmen der Hochwasserkatatrophe sehr gut die Entwicklung,
die Aufgaben, die nötigen Umstrukturierungen, aber auch die Probleme des
Technischen Hilfswerks auf. Am Rande sei bemerkt, daß wir uns keineswegs
als Helden oder Supermänner sehen, sondern als Bürger, die im Rahmen
eines Ehrenamtes in Not Geratenen helfen wollen:


Berlin – Das THW ist immer da, wenn Krise ist. Kein Unternehmen könnte
sich das leisten – Gute Zeiten für Helden: Flugzeuge stürzen ab,
Stürme und Fluten überziehen die Republik. Wann immer dergleichen
passiert, rückt eine Einrichtung in den Blick der Öffentlichkeit,
die sonst wenig Aufmerksamkeit erlangt und die, je nach Blickwinkel, eine Behörde
des Innenministeriums ist oder der größte Heldentrupp Deutschlands:
das Technische Hilfswerk, kurz THW.

Seine Mission ist die technische Nothilfe, sein Prinzip die Freiwilligkeit:
61 500 Helfer arbeiten ehrenamtlich, 98 Prozent aller THWler. Sie werden regelmäßig
geschult, aber nur im Krisenfall aktiviert. Die Steuerung übernehmen die
100 Hauptamtlichen in der Bonner Zentrale und weitere 750 in den Landesverbänden
und Geschäftsstellen. Der Jahresetat: 130 Millionen Euro, gezahlt vom
Innenministerium.

11 000 Helfer hat das THW in den letzten Wochen in den Hochwasserregionen
der Elbe mobilisiert. Die Hilfe läuft noch, doch fest steht: Es war der
bisher größte Einsatz der 1950 gegründeten Organisation. Massenhaft
Schutt haben sie weggeräumt, Behelfsbrücken gebaut, unzählige
Häuser ausgepumpt sowie ab und an Leben gerettet. Und damit den Wandel
des THW vom Krisenverein im Kriegsfall zur flexiblen Einsatztruppe bei Ökokrisen
dokumentiert.

Im Kalten Krieg sollte das THW die Zivilbevölkerung bei einem eventuellen
Krieg schützen. Dazu kam es bekanntlich nicht. Der Technikverein führte
ein unauffälliges Dasein. Bis 1995 eine grundlegende Reform einsetzte
und das THW fit machte für Einsätze bei verschiedensten Katastrophen.
Georg Thiel, seit Februar neuer Präsident des THW: “Damals wurde
die gesamte Organisationsstruktur umgestellt. Wir haben neue, kleinere Module
gebildet und können so heute viel schneller und flexibler auf Krisen reagieren.”

Ein Beispiel für ein Modul: die “Fachgruppen”, spezialisierte
Teams in den Ortsverbänden. 264 Fachgruppen sind etwa auf die schnelle
Verbesserung örtlicher Infrastruktur trainiert, 132 auf die Räumung
von gefährdeten Gebieten. Ebenfalls auf die Ortsverbände verteilen
sich die 812 “technischen Züge”, Generalistenteams aus rund
40 Helfern. Zwei Gerätewagen gehören zu einem Zug, und ein Mannschaftswagen,
in dem die Helfer zu ihren Einsätzen fahren.

Nicht nur in der eigenen Region. An der Elbe sind Teams aus ganz Deutschland
im Einsatz. 50 Leute hat der Ortsverein Berlin Charlottenburg-Wilmersdorf ins
Epizentrum der Krise nach Dresden geschickt. Einer von ihnen, Mario Doboviek,
berichtet: “Die Situation war chaotisch, auch weil die Helfer sich noch
organisieren mussten. Später wurden wir nach Perleberg verlagert. Da war
die Lage ruhiger.”

Klingt abgeklärt. Der 21-Jährige hat Erfahrung mit Hilfsaktionen.
Mit dem Berliner Hilfsteam war er bisher vor allem für die Koordination
von Großeinsätzen zuständig. Jetzt kümmert sich Doboviek,
der im normalen Leben studiert und als Journalist arbeitet, um die PR-Arbeit
an Krisenorten.

Bei Menschen wie ihm, smart, jung, urban, stellt sich die Frage: Hat er mit
seiner Freizeit nichts Lustigeres zu tun, als sich in Überschwemmungsgebieten
nasse Füße zu holen? Lustigeres vielleicht, Herausfordernderes nicht,
meint Doboviek: “Ich mache hier unglaubliche Erfahrungen. Die Kameradschaft
ist super, und ich lerne viel über Technik.” Außerdem – diesen
Punkt nennt er zuletzt, die Verpflichtung für sechs Jahre THW erspart
jungen Männern die Bundeswehr. 40 Prozent der 61 500 ehrenamtlichen THW-Aktivisten
entgehen in der blauen Kluft des Hilfsclubs der Truppe in Grün.

Ein Gehalt bekommen auch sie nicht. Das ist der Grund, weshalb kein Unternehmen
die Hilfsdienste anbieten könnte. Es müsste die Helfer bezahlen –
auch in krisenfreien Zeiten. Damit würden die Einsätze zu teuer. “Wir
treten nicht in Konkurrenz zur Wirtschaft”, sagt THW-Chef Thiel. Im Zweifelsfall
muss die örtliche Handelskammer bestätigen, dass ein Einsatz keiner
privaten Firma einen Job wegschnappt.

Die Bauindustrie sieht im THW keinen Wettbewerber – auch nicht, wenn die Blauen
schon mal Behelfsbrücken bauen wie jetzt in Glashütte. “Wenn
die Baufirmen anrücken, ist das THW schon wieder weg”, sagt Heiko
Stiepelmann, Sprecher des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie. “Wir
sind für die Infrastruktur zuständig. Die Nothilfe leistet das THW.”

Und das nicht mehr nur in Deutschland. Die Notfalltechniker sind rund um die
Welt im Einsatz. Mit 30 Millionen Euro Drittmitteln arbeitet das THW im Ausland.
Beim Elbhochwasser haben deutsche Pumpen auch Keller in Prag ausgepumpt. In
Kabul setzen sie gerade die neue Polizeiakademie in Stand; vergangene Woche
war Einweihung. Das gesamte Projektmanagement – Preise ermitteln, Rahmenverträge
mit Baufirmen abschließen, Arbeiten überwachen – provided by THW,
Germany.

Der Ruf der Katastrophentechniker ist gut. Dass Minister Schily seine Leute
gelobt hat, war zu erwarten. Doch auch die Lokalpresse konnte während
der Flut kaum über Pannen berichten. Dennoch: Keine Behörde ohne
die typischen Staatskrankheiten. “Wir hatten sicher ein wenig Verwaltungsspeck
angesetzt. Doch das wird abgebaut”, sagt Chef Thiel. Außerdem, so
die Devise, müsse man stärker zum Dienstleister werden und die Möglichkeiten
der IT konsequenter nutzen.

Ansonsten weiß Thiel um das Image seines Hauses. Das will er jetzt vermarkten
– durch Merchandising-Artikel. Drei bis vier Dutzend Produkte tragen schon
den THW-Aufdruck: Werkzeuge, T-Shirts, Modelleisenbahnen, Spielzeugautos. “Lediglich
einen kleinen fünfstelligen Betrag” spielt ihr Merchandising bisher
ein, so Thiel. Aber: “Das wird noch sechsstellig werden”, glaubt
er. Der Marktwert steigt weiter mit der nächsten Flut. Und die kommt bestimmt.”